Leseprobe 1

aus Kapitel 1

Es war November. Keine andere Jahreszeit entsprach dem, was auf mich zukam, deutlicher als dieser triste Nebelmonat. Und obwohl der fünfzehnte des Monats weniger grau und dunkel war, als viele Tage vorher, wurde er zum schwärzesten, den ich erleben musste.

Mit Verwunderung reagierte ich schon immer auf Menschen, die dem Spätherbst etwas Besonderes abgewinnen konnten. Ein Freund hatte mir eröffnet, diese Tage des zurückweichenden Lichtes seien für ihn der Inbegriff wohliger Melancholie. Er novembriere geradezu. Damit beschrieb er seine Gemütslage, wenn die Abende länger und die Wohnungen anheimelnder würden. Die Welt käme auf einzigartige Weise zur Ruhe. Nebelschwaden legten sich wie eine weiche Decke über die von einem geschäftigen Jahr müde gewordene Natur.

Für mich, Michael Brückner, waren solche Gedanken so fern wie die Nacht dem Tage. Die Zeit abnehmenden Sonnenlichtes war Leidenszeit. Das Grau des Novembers legte sich als dunkler Schleier auf meine Seele, so wie das Dunkel, das einen umfängt, wenn ein Zug in einen Tunnel einfährt, ohne dass ein Silberstreif am Ende zu erkennen wäre.

Das Leben hatte mich gelehrt, dass der November-Tunnel, in den ich alljährlich einfuhr, im darauffolgenden Monat an sein vorgegebenes Ende käme, spätestens aber mit den länger werdenden Tagen im neuen Jahr. Das war ein Trost, immerhin. Darin glichen meine herbstlichen Erfahrungen nicht denen des Vierundzwanzigjähren, Zigarre rauchenden Studenten, den Dürrenmatt mit dem Zug auf den Weg nach Zürich schickte, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war. Nein, mein November-Tunnel war ein Tunnel mit Ausgang. Allein dies Wissen tröstete mich Jahr für Jahr über diese Zeit hinweg.

Jedenfalls hatte ich das bis zu jenem verhängnisvollen Abend vor zwei Jahren geglaubt. Damals fuhr ich doch in einen Tunnel ein, der nicht enden wollte. Er erwies sich als länger, als meine Erfahrung mich bisher gelehrt hatte. Den von mir als tröstlich empfundenen Gesetzmäßigkeiten der Jahreszeiten lief er auf schmerzlichste Art zuwider. Auf das zurückweichende Licht folgte kein Aufschwung im neuen Jahr. Und wie der Vierundzwanzigjährige schien ich mich mit der erschreckenden Erkenntnis konfrontiert, dass es keinen Lokführer gab, der meinen in die Tiefe stürzenden Lebenstunnel hätte stoppen können.

 

Das alles wusste ich noch nicht, als am Mittag des fünfzehnten Novembers eine fahle Sonne von schnell fliegenden Wolken immer wieder verdeckt wurde. Wind war aufgekommen, der in der Nacht zu einem Sturm anwachsen sollte.

Mit Alexandra, seit mehr als dreißig Jahren die Frau meines Lebens, plante ich, am Abend, wie jedes Jahr, meinem Bruder zum Geburtstag zu gratulieren. Um sechs waren wir verabredet. Zwanzig Minuten Fahrt bis in den Nachbarort. Wie gewohnt klappten auch diesmal die Absprachen mit den Kollegen, obwohl ich als Lokalredakteur der heimischen Tageszeitung oft abends Termine wahrzunehmen hatte. Also: Im November nichts Neues!

Aber dann geschah das Unerwartete. Es krachte geradezu in mein Leben und das unserer Kinder, so nachhaltig, dass kein Stein auf dem anderen blieb.

 

Schon einige Zeit hatte Alex auf eine unbestimmte Art verändert gewirkt. Weniger lebensfroh, eher etwas bekümmert, in sich gekehrt. Besondere Beachtung hatte ich dem nicht geschenkt. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Mein persönlicher Novemberblues ließ mich die offensichtlichen Zeichen nicht erkennen. Schließlich, am Morgen des verhängnisvollen Tages, wurde Alexandras Verschlossenheit auch für mich deutlich.

„Was ist los mit dir? Du wirkst so, ich weiß nicht, anders“, begann ich am Frühstückstisch das Gespräch. Aber ich war wohl nicht besonders geschickt. Jedenfalls schaute sie ohne eine Antwort zur Seite. Eine Sorgenfalte zwischen ihren Augen gab wortlos Auskunft über ihr Inneres. Vorsichtig legte ich meine Hand auf ihren Arm und wiederholte so liebevoll wie möglich die Frage.

„Was ist los? Ich sehe doch, dass du etwas hast.“

„NICHTS!“

Harsch, fast brutal sprach sie das Wort aus. Tief ins Mark traf mich ihre Antwort. Das irritierte und ärgerte mich. Lag es an mir? Hatte ich das Offensichtliche nicht bemerkt? Wollte ich es nicht wahrhaben? Der kalte Hauch eines Gefühls von Schuld streifte mich, ein Empfinden, das mich seitdem immer häufiger und immer stärker überfiel.

„Nun komm schon. Dir ist doch irgendeine Laus über die Leber gelaufen. Was meinst du, sollen wir das kleine Tierchen nicht zusammen einfangen?“ Ich erschrak, als ich sah, dass sich bei dem unbeholfenen Scherz die Falte auf ihrer Stirn noch tiefer eingrub. „Hat es mit mir zu tun?“, fragte ich irritiert und ängstlich zugleich. „Bin ich der Anlass für deine Stimmung?“

  „Du doch nicht.“ Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. Aber ihre Augen erreichte es nicht. „Es hat mit Selke zu tun. Der wird immer schwieriger.“

„Mit Selke – deinem Chef?“ Meine Überraschung ließ mich verstummen. Und das war gut so, denn nach einer kurzen Zeit des Schweigens begann sie mit dem herauszurücken, was sie bedrückte.

„Ach!“ Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Das geht schon eine ganze Weile so. Der wird immer komischer, geradezu schmierig. Ich weiß gar nicht recht, wie ich das Gefühl beschreiben soll, wenn er in meine Nähe kommt. Ganz unangenehm. Es läuft mir, wie soll ich sagen, irgendwie kalt den den Rücken hinunter.“

„Und das geht dir schon länger so?“

Sie zuckte mit den Schultern.

Das alles hörte sich nicht gut an. Ich war Alex‘ Chef ein paarmal begegnet und sah den Typen vor mir. Trotz seines äußerlich tadellosen Anzuges strahlte er etwas Verschlagenes aus, nein, etwas Schmieriges, wie Alex es genannt hatte. Und dann der Name: Rainer-Maria Selke, ziemlich hochtrabend fand ich, zumindest der Vorname. Na ja, dachte ich, dafür kann er ja nicht.

Grotesk wurde es allerdings, als er mir auf einer Betriebsfeier ungefragt und deutlich angeheitert Auskunft darüber gab. Ein Grinsen konnte ich mir nur mit Mühe verkneifen.

„Meine Mutter“, führte er mit dem Bierglas in der Hand aus, „hat den Namen ausgesucht. Sie hatte einen fast schon komischen Hang zum Bildungsbürgertum, ohne wirklich dazuzugehören. Rainer-Maria – sie fand das bedeutend, weil mein Familienname mit etwas Fantasie an den Lyriker Rainer-Maria Rilke erinnere. Sie kennen ihn?“

Ich musste an mich halten bei dieser Frage, brauchte aber zum Glück nicht zu antworten, weil Selke von sich aus sofort weitersprach. „Und sie liebte es, auf den Dichter hinzuweisen, wenn sie nach der Namenswahl für mich gefragt wurde. Diese Gelegenheiten hat sie regelrecht zelebriert. Meistens fügte sie unmittelbar eine Gedichtzeile an: Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Und mit einem verklärten Blick schaute sie dabei nach oben.“ Selke schüttelte sich unvermittelt und sein Bierglas schwappte verdächtig. „Erst später, in der Schule“, ergänzte er, „erfuhr ich, dass die Zeile aus dem Gedicht Der Panther stammt. Aber zu dem Zeitpunkt war der Spaß längst vorbei, das können Sie mir glauben. So ein halber Mädchenname! Manche Jungs konnten es sich nicht verkneifen, mich Mariechen zu rufen. Na ja, wenigstens bei den Frauen hat er nicht geschadet.“ Er lachte dumpf auf. „Bei denen hatte ich oft Schlag deswegen. Die fuhren darauf ab. Immerhin! Ist wohl tatsächlich so‘n Frauending, dieser Schöngeist-Name.“

„Na ja“, antwortete ich ziemlich genervt. „Wenigstens ist Selke als Nachname ausgleichend normal.“ Er lachte gekünstelt über den Scherz, wobei das Bier im Glas endgültig überschwappte. Aber in seinem Gesicht stand etwas anderes geschrieben. Sein Name, so schien es mir in diesem Moment, war eine offene Wunde. Ob seine Mitschüler wohl auch mit dem Nachnamen Unfug getrieben hatten und Selke – Nelke – verwelke oder noch Schlimmeres  hinter ihm herriefen? Einen Augenblick tat er mir damals leid.

„So wie der mich anguckt – das ist nicht normal!“ Alexandras Worte holten mich in die Gegenwart zurück. Dann schwieg sie wieder. Stumm beendeten wir das Frühstück. Schließlich gingen wir unseren Tagesgeschäften nach. Alexandra fuhr ins Büro und ich in die Redaktion. Nur noch eine kurze Verabredung für den Abend. Um halb sechs wollten wir zu Wolfgangs Geburtstagsfeier aufbrechen. „Ich bin pünktlich“, versprach Alex, als sie das Haus verließ.

„Lass dich nicht unterkriegen!“, rief ihr noch nach. „Das ist der Kerl nicht wert.“

 

Kurz vor fünf am Nachmittag sah ich auf die Uhr. Draußen war es beinahe gänzlich dunkel geworden. Noch reichte die Zeit, damit wir um sechs bei Wolfgang eintrafen. Aber Alexandra würde sich noch frischmachen und etwas Passendes anziehen. Ich wurde unruhig. Um halb sechs ich hörte, wie sie unten ins Treppenhaus trat. Endlich! Kaum später schloss sie die Wohnungstür auf. Wir wohnten ganz oben. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hatten wir unser Haus gegen eine Wohnung getauscht. Weniger Verantwortung, weniger Arbeit und trotzdem eine schöne Dachterrasse. 

 „Da bist du ja endlich“, empfing ich sie etwas zu heftig. „Pünktlich schaffen wir es nun nicht mehr.“ Sie legte ihre Stirn in Falten, erneut, wie schon am Morgen. Ich hielt den Mund. Ihre Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht, tiefer noch als in der Früh.

 „Tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Es ging nicht eher. War viel los heute. Du weißt, wie sehr ich Unpünktlichkeit hasse. Aber es war nicht meine Schuld. Ganz zum Schluss wollte Selke noch was von mir. Irgendeine vollkommen unwichtige Sache ohne jeden Zeitdruck. Die sollte aber trotzdem noch heute Abend erledigt werden.“ Sie unterbrach sich selbst und ließ mich stehen, um direkt ins Bad zu gehen. Als ich ihr folgte, stand sie vor dem Spiegel, schien aber nicht hineinzuschauen, sondern durch ihn hindurch.

„Alex, was ist passiert? Ich sehe es dir doch an, dass irgendetwas vorgefallen ist.“

Sie wendete das Gesicht zu mir und ich sah Tränen, die sie mit einer Bewegung, die wie zufällig aussehen sollte, wegzuwischen versuchte. Dann ging ein Ruck durch sie und mit bewusst fester Stimme antwortete sie: „Ich hab ihm sehr deutlich gesagt, dass das, was er wollte, ja wohl Zeit bis morgen hätte. Aber er hörte gar nicht zu. Stattdessen wünschte er meinen Kolleginnen einen schönen Abend, die dann eilig verschwanden. Die Situation war, wie soll ich sagen, irgendwie aufgeladen. Anzüglichkeiten kenne ich ja schon von ihm. Auch gegenüber den Kolleginnen. Aber heute war es ... anders.“ Alexandras Stimme erstarb.

Erneut lief es mir kalt den Rücken hinunter. Was versuchte Alexandra mir da gerade mitzuteilen?

„Ich fühlte mich schrecklich unwohl“, fuhr sie nach einer Weile gefasst fort: „Ich wollte mich den anderen anschließen, weg aus dem Büro, weg aus seiner Nähe.“ Sie rang um Fassung. „Aber er versperrte mir den Weg. Stand wie beiläufig im Raum und verdeckte die Tür. Und dann stieß er sie mit einem Fuß zu. Dabei grinste er süffisant.“ Alex‘ Mimik verriet Ekel.

„Was hat er getan?“, fragte ich aufgeregt. Mir war mulmig zumute. Ich hatte das Gefühl, dass sie nun endlich mit der Sprache herausrücken würde.

„Er kam ganz nah und machte mir Komplimente. Jedenfalls denke ich, dass er glaubte, es seien tatsächlich gelungene Schmeicheleien. Aber es war nur eklig. Wie attraktiv ich doch aussehe, wesentlicher interessanter als alle anderen Frauen. Besonders auch als alle jüngeren, mit denen er nur wenig anfangen könne.“ Sie musste schlucken. „Und dann kam er noch näher heran und flüsterte mir ins Ohr, wie gut meine Figur doch heute in einem Kleid zur Wirkung käme.“ Sie verzog angewidert den Mund. „Du glaubst gar nicht, wie abstoßend das war. Ich roch sein ekliges Rasierwasser und seinen sauren Atem. Offenbar hatte er getrunken.“ Unvermittelt brach sie ab und hielt sich die Hand vor den Mund, als wolle sie verhindern, weiter zu sprechen.

Ich hörte mit wachsendem Entsetzen zu.

„Du musst ihn in seine Schranken verweisen“, raffte ich mich schließlich auf. „Unbedingt und nachhaltig.“ Ich wusste sofort, dass es falsch war, dies jetzt und dies so zu sagen.

„Was glaubst du denn, was ich alles versucht habe.“ Ihr Ton wurde lauter, sogar aggressiv. „Das war doch heute nicht das erste Mal. Zwei, drei Wochen geht das schon so und ich habe mich ihm entzogen, so gut es ging.“

„Ja natürlich. Natürlich hast du das.“

„Du nimmst mich nicht ernst!“

„Entschuldigung. Den Eindruck wollte ich nicht vermitteln. Dennoch musst du etwas unternehmen. Am besten mit deinen Kolleginnen zusammen. Schaltet einen Rechtsanwalt ein. Zeigt ihn an. Damit darf er nicht durchkommen.“

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie fies das ist, wenn er immer näherkommt und ich sein fürchterliches Duftwässerchen rieche. Der Mann hält sich offenbar für unwiderstehlich.“ Angewidert verzog sie das Gesicht.

Ich sah Alexandra misstrauisch an. Mir schwante Böses. „War da mehr, als dass er die Tür hinter sich schloss und die anderen gegangen waren?“

Aber sie blieb stumm.

„Bitte, rede mit mir.“

„Lass mich! Ich muss mich fertig machen.“ Dann drehte sie sich um, als wollte sie gehen, zögerte aber doch.

Ich ärgerte mich. Sie verschwieg mir etwas. Sie rückte nicht mit der Sprache heraus. Es war offensichtlich, dass sie nicht die geringsten Absichten hatte, den Avancen ihres Arbeitgebers nachzugeben. Aber genauso deutlich war, dass ihr die Sache nicht leichtfiel. Ich spürte, dass es ernst war.

„Du wirst das Problem nicht los, wenn du es verdrängst“, versuchte ich es erneut.

„Lass mich in Ruhe mit dem Blödmann“, platzte sie heraus. „So ein verdammter Scheißkerl!“

Ich ging auf sie zu und streichelte ihr sanft die Wange.

„Tut mir leid für dich. Ist schon ein ziemlicher Spinner, oder?“

Sie schlang ihre Arme um mich und gab mir einen Kuss. Dann seufzte sie schwer und löste sich von mir. „Ich muss duschen“, sagte sie, „und du musst dich auch fertigmachen.“

Mir war klar, dass die Angelegenheit damit vorerst beendet war. Das kannte ich an ihr. Aber ich wusste auch: Da war mehr passiert, als sie mir erzählen wollte.

Ich nahm mir vor, sie nach dem Duschen erneut darauf anzusprechen. Aber ich musste vorsichtig sein, sonst würde sie endgültig dicht machen. Leider kam es genauso. Mein Versuch, doch noch etwas aus ihr herauszubekommen, ging völlig schief.

„Kümmere dich um dich selbst und zieh dich um. Ich dachte, du hättest es eilig.“ Die Worte trafen mich wie Peitschenhiebe. „Du hast doch gemerkt, dass ich nicht weiterreden will.“

Stumm gingen wir schließlich aus dem Haus und ebenso stumm setzten wir uns ins Auto.


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