Aus Kapitel 13

Zwei Uhr am Nachmittag fuhren wir mit Leifs Boot hinaus, in die Prestebukta, fast in Sichtweite von Leifs und Marits Haus. Der Wind hatte etwas aufgefrischt. Deshalb war ich froh, dass der Steuerstand des Bootes in einer Kabine lag, in der wir warm und trocken die Fahrt genießen konnten. Leif hatte mir zudem mit einem dicken, wasserdichten Overall ausgeholfen. Wellen spritzten links und rechts vom Bug des kleinen Fischerbootes auf, als wir tief in einen immer schmaler werdenden Fjord hineinfuhren. Die Landschaft zu beiden Seiten des Ufers wurde nordisch karg. Abgerundete, nackte Felsen waren zu erkennen. Vegetation gab es nur in den Rinnen, die die Steinformationen durchzogen. Bäume, im Gegensatz zur Stadt, gar nicht. Für mich überraschend, begann es am Nachmittag zu schneien, nachdem über Mittag noch Sonnenstrahlen ihren Weg durch eine sich langsam schließende Wolkendecke gefunden hatten. Ich hätte mit Regen gerechnet, aber Schnee sei hier oben im Oktober ganz normal kommentierte Leif Johansson. Aber noch blieb er nicht liegen.

Nach einer halben Stunde kamen einige bunte Markierungsbojen in Sicht und Leif steuerte auf eine orangene mit blauen Streifen zu.

„Auf geht’s. Jetzt heißt’s anpacken. Hoffentlich ist was drin in den Körben und vor allem Krabben, die man mitnehmen darf. Weibchen müssen zurück ins Meer und die Männchen brauchen die passende Größe.“

Draußen, im hinteren Teil des Bootes, war es empfindlich kalt. Das Wasser machte es nicht besser. Leif beugte sich mit einer Art Enterhaken über die Bordwand und fischte nach der Leine unter der Boje. Er bekam sie zu fassen und bedeutete mir, mit anzufassen, um den schweren Korb hochzuziehen.

„Oh. Ist der voll?“

„Das weiß man erst, wenn er im Boot ist. Das, was du jetzt spürst, ist der Wasserwiderstand. So ein Korb ist ziemlich groß, du verstehst? Die Krabben müssen reinpassen.“

„Ich habe keine Ahnung; wie groß sie wirklich sind“, gab ich zu. „Gestern Abend auf dem Teller waren ja nur Teile. Marit hatte sie doch schon auseinandergebrochen.“

„Na dann warte ab. Ich hoffe, du bist mutig.“

Es dauerte ziemlich lange, bis der Korb an die Oberfläche kam.

„Wie tief ist das denn hier“, wollte ich wissen.

„Fünfzig, sechzig Meter werden es sein. Um es genau zu sagen, müsste ich einen Blick aufs Echolot werfen. Aber schau dir einfach die Felsbuckel an Land an, dann ahnst du, wie es unter Wasser weitergeht.“

„Wow, was für ein Vieh!“ Ich konnte mein Erstaunen nicht zügeln.

Leif war weniger begeistert. „Ja, ziemlich groß. Aber ein Weibchen. Das bringt nichts für den Kochtopf. Aber fürs Foto. Pass auf: Du nimmst jetzt mit deinen Händen jeweils zwei Beine.“

Ich griff beherzt zu.

„Nein nicht an den beiden vorderen. Dann bist du zu dicht an den Scheren. Nimm die hinteren.  Genau – so ist es richtig. Und jetzt schön hochhalten, dann sieht man das Tier in seiner ganzen Pracht. Ich mach ein Foto davon. Gib mir einfach dein Handy.“

Die hinteren der sechs Beine hielt ich etwa auf Kopfhöhe, die Scheren der Riesenkrabbe auf Kniehöhe. Gewaltig. Und kraftvoll!

„Wenn du sie nicht mehr halten kannst, zurück ins Meer damit. Dein Wagemut ist dokumentiert!“

Ich war froh, dass ich die Monsterkrabbe schließlich ins Meer zurückbefördern konnte. Eine Mahlzeit hatten wir allerdings nicht, wie Leif bedauernd feststellte. „Aber ich hab noch mehr Körbe. Dieser hier bleibt jedoch im Boot. Der kommt nicht wieder raus. Ich kann ihn nicht mehr einholen, bevor mein Dienst auf der Midnatsol wieder beginnt.“

Leider erwies sich der heutige Tag insgesamt als wenig erfolgreich. Der zweite Korb war ganz leer, und im dritten gab es zwei Männchen, aber beide zu klein. Leif war zwar zunächst ziemlich mürrisch deswegen, meinte aber schließlich: „Dann gibt es heute eben Rentiersteak. Ist schließlich auch lecker, mit Kartoffeln und Moltebeeren. Ich ruf mal gleich Marit an, um sie vorzubereiten.“

Ich war froh, wieder in der geschützten Kabine stehen zu können, denn draußen war der Schneefall heftiger und der Wind immer eisiger geworden. Mit dem goldenen Oktober meiner westfälischen Heimat hatte das hier nichts zu tun.

Nach der Rückkehr an Land wollte ich dann aber doch sofort meine eigenen Wege gehen. Das allerdings mochten weder Leif noch Marit zulassen.

„Ich hab doch die Rentiersteaks schon aus dem Eis genommen“, stellte Marit mit erkennbarem Bedauern fest. „Sie zu grillen, dauert nur ganz kurz. Und die Kartoffeln sind auch bereits fertig.“

Da konnte ich nicht nein sagen. Und ich habe es nicht bereut. Einfach lecker. Den Aquavit nach dem Essen lehnte allerdings ich ab. Ich musste noch fahren. Schließlich verabschiedete ich mich von Marit und Leif. Ich bedankte mich herzlich und versicherte den beiden, wie gern ich Gast in ihrem Haus gewesen sei. Vor allem der Gang durch den Bunker und die Fahrt zu den Krabbenkörben würden mir lange in Erinnerung bleiben.

An der Reaktion meiner Gastgeber merkte ich, dass es ihnen ebenfalls recht war, wenn sich nun unsere Wege trennten. Natürlich tauschten wir Adressen und Telefonnummern aus. Wir versprachen in Kontakt zu bleiben und ich versicherte, die beiden über die weitere Reise auf dem Laufenden zu halten.

 

Kirkenes verlassen wollte ich allerdings noch nicht. Im Gegenteil, ich entschied mich dafür, für einige Tage ein Hotel aufzusuchen. Die Nächte waren kalt geworden und ich sehnte mich nach einem richtigen Bett und vor allem nach einer Dusche, über die mein kleines Wohnmobil nicht verfügte. In einem Stadthotel im Zentrum fand ich eine gute und bezahlbare Unterkunft. Hier wollte ich zur Ruhe kommen und alles, was ich bisher erlebt hatte, Revue passieren lassen. Außerdem musste ich auch mal wieder einen Artikel für meine Zeitung zu Hause abliefern.

Auf dem Hotelzimmer begann ich alsbald zu schreiben. Es sollten die Art von Geschichten werden, die mein Chef für die Zeitung haben wollte. Ich berichtete von Tova, Anders und Frederik, von Marit und Leif. Von der Begegnung in der Bucht von Grense Jacobselv und vom Krabbenfang. Das waren die Stories, durch die Leser sich in fremde Welten mitnehmen lassen konnten. Ein paar wenige Sätze schrieb ich auch zur Andersgrotte und der Zerstörung der Stadt. Aber damit hielt ich mich zurück. Kein Wort über das intensive Gespräch mit Leif über unsere Väter. Stattdessen fasste ich einen anderen Entschluss. Ich entschloss mich, die Erlebnisse aufzuschreiben, die mein Vater mir und den Geschwistern in kleinen oder größeren Bruchstücken immer wieder erzählt hatte. Bisher war alles nur in meinem Kopf. Aber ich fühlte, dass es notwendig war, es festzuhalten. Und noch ein Plan entstand in dem Hotel am Rande der Welt. Ich würde auch meine eigenen Erlebnisse niederschreiben, vom Tag des Unfalls an bis heute, den langen Weg zu mir selbst, der auch zu meinem Vater Hermann geführt hatte. Mehr als Stichworte konnten es hier am Hotel nicht sein. Zu Hause würde ich dann alles in eine lesbare Form bringen.


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